ΚΥΚΛΟΣ (Kýklos) für Orchester (2011)

Meine Komposition KYKLOS ist eine Art ‚heimliche‘ Vertonung von Gedichten von Rainer Maria Rilke. Das poetische Wort wird nicht vorgetragen, es bildet aber den Ausgangspunkt für die formal-architektonische Struktur und die musikalischen Gesten des Werkes.

Die Hauptstimme des I. Abschnitts (erstes Gedicht) erklingt im Vibrafon und fungiert als Basis für einen Proportionskanon: 1:2 (Bassklarinette) und 1:4 (Harfe). Die Stimme der Bassklarinette mutiert klanglich (Hörner, Xylophon) und vervollständigt sich am Ende des II. Abschnitts (zweites und drittes Gedicht). Die Harfenstimme unterzieht sich vielen strukturellen Veränderungen (Abbrüche, Ergänzungen, Verdichtungen), bevor sie den Schluss des III. Abschnitts (viertes Gedicht) erreicht. Es folgen der IV. Abschnitt (fünftes Gedicht) und ein kurzer ‚rückschauender‘ Epilog.

Der Titel deutet auf verschiedene Elemente hin:

  1. Proportionskanon als Symbol von konzentrischen Kreisen
  2. Kreis als graphisches Element, das durch symmetrische Streicher-Linien entsteht
  3. Kreis als geschlossenes Klangobjekt (kreisförmige Holzbläser-Linien)
  4. Kreis im Sinne der veränderten Wiederkehr des Anfangsmaterials am Ende des Stückes
  5. Kreis als Symbol der Vollendung eines Prozesses aber auch einer unendlichen Bewegung, deren Ende immer einen neuen Anfang bedeutet
  6. Kreis als Komplex der fünf verwendeten Gedichte (eine Art „Liederkreis“).

Die fünf Gedichte von Rilke, die die Grundlage der Komposition bilden, thematisieren in unterschiedlicher Art und Weise die künstlerische Erfahrung. Das erste Gedicht, der Sammlung Das Buch vom mönchischen Leben entnommen, stellt ein ekstatisch-kreatives Moment im Leben eines russischen Ikonenmalers dar. Musikalisch ‚schreiend‘ beginnt der II. Abschnitt, in dem gleichzeitig das zweite und das dritte Gedicht – die die Figur des Orpheus thematisieren – ‚vertont‘ werden. Das zweite Gedicht beschreibt das magische Moment des orphischen Gesangs, wobei den gleichsam mit menschlichem Bewusstsein ausgerüsteten „Tiere[n] aus Stille“ ein „Tempel im Gehör“ geschaffen wird. Das dritte Gedicht thematisiert den tragischen Tod des Orpheus durch die in Raserei verfallenen, „verschmähten“ Mänaden. Rilke fokussiert hier auf ein weiteres symbolisch-magisches Element: die Zerstückelung und Verteilung des Körpers von Orpheus durch die Mänaden sind die Voraussetzungen für die Verbreitung des orphischen Gesangs. Das vierte Gedicht verbindet die Dichtung mit dem Atmen in einem Ton, der quasi buddhistische Universalität ausstrahlt. Denkbar in diesem Zusammenhang, das Atmen als eine unio mystica zwischen dem Subjekt und dem Universum zu betrachten und im übertragenen Sinne die poetische (bzw. künstlerische) Erfahrung als Verbindung des Ich mit der Welt: „[…] in einem Gedicht, das mir gelingt, ist viel mehr Wirklichkeit als in jeder Beziehung oder Zuneigung, die ich fühle; wo ich schaffe, bin ich wahr […]“ (R. M. Rilke). Ein Credo von Kunst als Schaffung von Wirklichkeit/Wahrheit klingt hier mit, das u.a. später bei Paul Celan in einer extrem individualisierten Poetik erweitert wird. Das letzte Gedicht, das dem IV. Abschnitt entspricht (klanglich entferntes Streichtrio innerhalb eines ‚Waldes‘ aus Pizzicato-Flageolett), thematisiert die ‚Verwandlung‘. Der Dichter fordert den „stillen Freund der vielen Fernen“ auf: „Sei in dieser Nacht aus Übermaß / Zauberkraft am Kreuzweg deiner Sinne, / ihrer seltsamen Begegnung Sinn.“

ΚΥΚΛΟΣ ist ein Auftragswerk des Thessaloniki State Symphony Orchestra und seinem früheren Chefdirigenten, Myron Michailidis, gewidmet.  

Kyklos Ausschnitt
Entstehung Auftragswerk des Thessaloniki State Symphony Orchestra
Dauer ca. 11 Min.
Besetzung 3 Flöten (3. auch Piccolo), 3 Oboen (3. auch Englischhorn), 3 Klarinetten in B (3. auch Bassklarinette in B), 3 Fagotte (3. auch Kontrafagott), 4 Hörner in F, 1 Trompete in C, 3 Posaunen, 1 Tuba, 3 Schlagzeuger, 2 Pauker (5 Pauken), Harfe, Celesta, Streicher (12 I. Violinen, 10 II. Violinen, 8 Violen, 6 Violoncelli, 4 Kontrabässe mit tiefer 1C-Saite)
Widmung Myron Michailidis

Aufführungen (Auswahl)

  • 27.05.2011 (UA), Thessaloniki Concert Hall;
Thessaloniki State Symphony Orchestra, Leitung: Miltos Logiadis